Acht Jahre war Julia Salzstein alt, als Polen von Deutschland besetzt wurde. Sie verlor ihre Familie, überlebte die Schoa und wanderte viele Jahre später nach Israel aus.
Im Gespräch mit Israelnetz erzählt sie ihre Geschichte.
Mein Name ist Irene Julia Salzstein-Feiermann. Ich wurde am 14. Februar 1931 in Westgalizien, in der Stadt Kolomea, geboren. Seit dem Ersten Weltkrieg, bis in die 1920-er Jahre, gehörte Galizien zu Österreich-Ungarn. Dann kamen die Polen. Ich bin also in Polen geboren. 1939 brach der Krieg zwischen Deutschland und Russland aus. Die deutsche Macht besetzte Kolomea.
Einmal kamen zwei Deutsche zu uns nach Hause, ein Offizier und ein Soldat. Sie suchten Munition. Meine Mutter sprach Deutsch mit ihnen. Der Offizier kam immer wieder. Wahrscheinlich war er Österreicher, denn die beiden sprachen viel von Wien. Meine Mutter hatte während des Ersten Weltkrieges in Wien gewohnt. Später steckte man uns ins Ghetto. Aber vorher forderten die Deutschen immer andere Dinge. Erst wollten sie Gold, dann Silber und später warme Anziehsachen; Wolle und gefütterte Mäntel mit Kragen.
Dann fingen die Aktionen gegen uns an. Meine Familie hielt zusammen. Mein Vater und Bruder bekamen die Erlaubnis, ausserhalb des Ghettos zu arbeiten. Sie renovierten Wohnungen für die deutschen Besatzer. Manchmal konnten sie ein bisschen Essen, unter ihren Kleidern versteckt, zu uns schmuggeln. Ich war die jüngste der Familie, und meine Mutter steckte mir immer etwas zu, damit ich nicht hungrig sei. Sie sagte: „Ich sehe, du bist schon grün vor Hunger!“
Der Mutter entrissen
Am 7. September 1942 organisierte die deutsche Besatzung eine Registration des Ghettos. Dazu führte man uns auf einen grossen Platz, dann begann die Selektion. Ich stand zusammen mit meiner Mama und meiner Schwester. Von einer anderen Familie kam jemand zu mir und sagte: „Julia, komm mit.“ Also ging ich mit ihnen. Mutter und Schwester wurden ins Todeslager Treblinka gebracht. Ich habe die beiden nie wieder gesehen.
Ich blieb mit meinem Vater, meinem Bruder und einer älteren Schwester, die verheiratet war. Die Deutschen organisierten ein grosses Gebäude, in dem verschiedene Räume mit Werkstätten waren. Mein Vater arbeitete in einer Malerwerkstatt.
Von draussen brachten sie uns Produkte. Natürlich gegen Geld, aber so bekamen wir etwas zu essen. Mit der Zeit führte man auch in der Umschlagstelle Selektionen durch: links, rechts. Aber die Leute, die bei den Deutschen arbeiteten, liess man rüber.
Einmal gab es eine Aktion, und wir versteckten uns in einem Keller. Ich weiss nicht, wie viele Leute wir waren. Aber uns fehlte die Luft zum Atmen, es war sehr stickig. Auch drei Kinder waren dabei. Ich erinnere mich, dass mein Vater kam, und als wir aus dem Keller hochkamen, begann er zu weinen. Dann sagte er: „Es ist genug. Nun kommst du mit mir zur Arbeit.“ So ging ich jeden Tag mit ihm zur Umschlagstelle. Dort war ich Putzmädchen. Ich habe gefegt und Gläser abgewaschen.
Monatelang im Keller versteckt
Wir wussten, die Deutschen wollten Kolomea judenrein machen. Deshalb versuchten wir, Verstecke zu suchen. Natürlich gegen Geld. Auch mein Vater fand ein Versteck. Dort waren wir 17 Leute, alles Juden. Was für ein Leben dort war, von Dezember 1942 bis August 43, kann ich nicht erzählen. Der Pole, den wir bezahlt haben, brachte uns Wasser und Brot und manchmal eine Delikatesse – bis uns jemand anzeigte.
Wir sassen im Keller eines einstöckigen Hauses. Ein Deutscher stand auf dem Dach. Bis heute sehe ich ihn, ich war unten, er stand oben und rief: „Stehenbleiben.“ Die Männer kletterten auf einer Leiter aus dem Keller und sprangen auf das Dach des Nachbarhauses.
Als ich auf die Leiter kletterte, kam ich nicht weiter, weil ich zu klein war. Deshalb blieb ich unten. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern sagte: „Du siehst, deine Familie hat dich im Stich gelassen. Aber ich führe dich raus.“ Und das tat sie. Ihr zweijähriges Mädchen trug sie auf den Händen. Ihr Junge war vielleicht neun Jahre. Wir liefen zu unseren Bekannten, den Polen. Was mit der Frau und den Kindern passiert ist, weiss ich nicht, aber diese Frau hat mir das Leben gerettet.
Ich blieb bei der polnischen Familie. Die haben mich aufgenommen. Später kamen auch mein Vater und mein Bruder. Da es Hochsommer war, konnten sie draussen auf den Feldern schlafen. Und nachts kamen sie bei uns vorbei, wo ihnen die polnische Familie eine Flasche Milch, eine Flasche Wasser und ein Brot mitgab. So haben sie zwei Wochen gelebt. Doch dann sagte mein Vater: „Ich kann nicht mehr.“ Er ging und übergab sich der Gestapo. Wenn ich heute daran denke – es war sein Kreuzweg. Ich weiss nicht, warum ein Mensch so seinem sicheren Tod entgegen gehen kann.
Die Familie gab meinem Bruder Bauernkleidung und ein bisschen Geld und sagten ihm: „Steig in die Eisenbahn und sag den Leuten in dem Dorf neben Kolomea, dass du gegen ein bisschen Nahrung Hirte sein wirst.“ Doch schon auf dem Weg hat man ihn erschossen. Er war 16 Jahre alt.
Versteck mit Bibelstudium
Die polnische Familie versteckte mich weiter auf dem Dachboden. Sie gaben mir die Bibel auf Polnisch und ich lernte das Neue Testament und die polnischen Gebete. Doch sie hatten Angst vor den Nachbarn und sagten „Wir müssen dir eine Bleibe suchen. Geh ins Waisenhaus und sag ihnen, dass du Waise bist und keinen Ort hast, wo du bleiben kannst.“ Ich ging und habe schönes Polnisch gesprochen. Doch die Erzieherin schaute mich von Kopf bis Fuss an und sagte: „Du bist ein jüdisches Mädchen! Es gibt keinen Platz“.
So blieb ich weiter auf dem Dachboden versteckt. Als die Russen kamen, wollten sie denen erzählen, ich sei ein Waisenkind und sie hätten Mitleid mit mir. Doch vorerst sagten sie: „Geh zum katholischen Priester.“ Das tat ich, und er nahm mich gut auf. Er konnte es arrangieren, dass ich bei fünf polnischen Nonnen wohnen konnte.
Weidemädchen, Schulbesuch und Alijah
Die Nonnen hatten eine Ziege, und jeden Tag habe ich sie geweidet. Mit dieser Ziege ging ich an all die Orte meiner Kindheit. Nach einem halben Jahr, als der Sommer vorüber war, sagte die polnische Familie: „Du kommst zurück zu uns.“ Sie schrieben mich in eine Schule ein. Das kann ich nicht vergessen! Andere hätten sicher ein Dienstmädchenaus mir gemacht. Aber sie schickten mich zur Schule! Am 9. Mai 1945 war Kriegsende. Auch die Kinder sollten dieses Ereignis feiern. Man brachte uns auf den Platz, auf dem ich das letzte Mal meine Mutter gesehen hatte.
Meine Schwester hatte inzwischen einen Russen geheiratet. Nun kam sie, um mich zu sich nach Tschernowitz zu holen. Dort ging ich weiter zur Schule. bisher war der Unterricht auf Polnisch, doch jetzt musste ich Russisch lernen. Aber ich war glücklich, unter Kindern zu sein. Jedoch bekam ich Asthma, weil ich damals im Keller zu wenig Luft bekommen hatte. Das ist eine Krankheit für das ganze Leben. Heute haben wir gute Medikamente, aber damals war es schrecklich.
Nach der Schule fing ich an zu arbeiten. Aber meine Schwester musste mit ihrem Mann an verschiedene Orte zur Arbeit fahren, wo man sie gerade hinschickte. Also blieb ich wieder allein. Die polnische Familie hatte es sehr schwer in Kolomea, sodass sie 1956 beschloss, nach Polen auszuwandern. Im Jahre 1960 schmiedeten wir einen Plan, ich solle auch nach Polen kommen. Und von dort aus würden mich meine Verwandten, die inzwischen in Israel wohnten, zu sich nehmen. Es dauerte ein paar Jahre, und obwohl mir die entsprechenden Dokumente fehlten, schenkte Gott zum Schluss das Gelingen.
So kam ich nach Israel und musste Hebräisch lernen. Das fiel mir sehr schwer. Ich heiratete einen Überlebenden aus Weissrussland. Ein Jahr wohnten wir in Tel Aviv, dann in Jerusalem. Doch dann brach der Sechs-Tage-Krieg aus, und mein Mann wurde eingezogen. Und wieder war ich allein. Doch er kam zurück und wir waren zusammen, haben aber keine Kinder.
Starke Prägung durch polnische Familie
Meine Muttersprache ist Polnisch. Ich spreche also polnisch, russisch, jiddisch und hebräisch. Im Deutschen fehlen mir manchmal die Wörter. Ich schäme mich, wenn ich sage, dass meine Muttersprache Polnisch sei. Aber mit meinen Eltern war ich weniger Zeit zusammen als mit meiner polnischen Familie. Jene Leute waren sehr fleissig und haben mich zum Fleiss erzogen. Das prägt mich bis heute. Mein Mann und ich waren arm wie Kirchenmäuse. Aber mit Fleiss bauten wir uns unser Leben auf. Inzwischen bin ich schon über 20 Jahre Witwe. Bis zu Corona habe ich gearbeitet. Freiwillig.
Meine Schwester kam einmal zu Besuch. Die einzige überlebende Familie war mein Cousin, ein Neffe meines Vaters. Er war es, der mir geholfen hat, nach Israel zu kommen. Wie mein Leben in Russland verlaufen wäre, weiss ich nicht.
Erschossen, weil er Jude war
Wenn ich sehe, was heute in Israel passiert, tut mir das Herz weh. Wenn ich sehe, wie unsere jungen Burschen fallen, denke ich an meinen Bruder. Ihn hat man erschossen, weil er Jude war. Und der Grund für diesen Krieg ist auch wieder, dass wir Juden sind. Das tut weh. Man muss kämpfen gegen den Antisemitismus. Warum gibt es den? Bis heute kann ich das nicht verstehen.
Ich fühle, dass trotz allem Gott an meiner Seite ist. Jedes Mal, wenn ich in einer Klemme bin, finde ich einen Ausweg. Und dann sage ich zu mir selbst: Das ist der Finger Gottes!
Text und Bilder mit freundlicher Genehmigung von Israelnetz. Aufgezeichnet von Merle Hofer, gekürzt von Leni Furrer, rea ISRAEL